Der Roman „Offene See“ ist 2019 in England erschienen, auf Deutsch gibt es den Roman seit 2020.
Einen Rahmen hat B. Myers gebildet, am Anfang 2 Seiten, auf denen sich der Ich-Erzähler als alter Mann vorstellt, den Literatur am Leben hält. Den 2. Teil des Rahmens bilden nach einer
Zeitraffung, die Dulcies und sein Leben und ihre Bedeutung für sein Leben auf einer Seite zusammenfasst, die letzten kurzen Absätze des Romans, übergangslos befindet sich der Leser wieder in der
Jetztzeit und wird schließlich vom Ich-Erzähler direkt angesprochen: „Ich setze mich und tippe den letzten Satz der Geschichte über die Leben, die so frei gelebt wurden, wie eine höhere Macht es
zuließ.
Das sind meine letzten Worte, ich hinterlasse sie hier für Sie.“ ( S.265)
Welche „Leben“ sind das?
Da ist Robert, der Ich-Erzähler, dessen Leben im Sommer des Jahres 1946 eine entscheidende Wende nimmt und ihn zu dem werden lässt, als den er sich gerade vorgestellt hat: ein
Liebhaber der Literatur, ein Schreiber, ein Dichter.
Mit 16 Jahren hat er die Schule beendet, wartet auf die Prüfungsergebnisse, um dann, so sieht es aus, weil es in der Familie immer so war, seinem Vater in die Zeche, unter Tage zu folgen. Nur mit
einem Rucksack und lebensnotwendigen Dingen für eine Wanderschaft will er die Zeit des Sommers nutzen, um ein Stück der Welt, besonders das Meer zu sehen, das nicht verschmutzt und ölig ist wie
in der Nähe des eigenen Dorfes, um Sonne und Wind zu fühlen und den Duft von Blüten und Früchten aufzunehmen, bevor es täglich ein Leben lang unter die Erde geht, er also auf alles das verzichten
muss. „ Es war ein Akt der Befreiung und Rebellion, doch die Fesseln des alten Lebens waren noch immer so festgezurrt, dass ich mich fragte, ob meine Wanderung lediglich eine kurze Galgenfrist
war, ein erstes und letztes Hurra vor der düsteren Aussicht auf den Ernst des Lebens.“ ( S. 24)
Dieser Sommer verändert ihn körperlich und geistig, neben der körperlichen Ertüchtigung durch handwerkliche Arbeit, gute Ernährung und tägliches Schwimmen im Meer eröffnet sich ihm die Welt der
Bücher in einem kleinen Cottage oberhalb eines Dorfes und des Meeres. Nach der Rückkehr und dem Arbeitsantritt in der Zeche, nicht als Bergmann, sondern über Tage im Büro ( sein Vater hat auch
gesehen, dass Robert der Familientradition nicht folgen kann, und eine etwas bessere Arbeitsmöglichkeit für ihn gesucht), hat Robert im folgenden Frühling den Mut, die Stelle „über Tage“, um die
ihn viele beneiden, zu kündigen und tatsächlich einen neuen Weg zu gehen, zuerst einmal ins Ungewisse, aber vom Lebensende her betrachtet, in Erfolg und Erfüllung, wobei sich sein Lebenskreis in
diesem Cottage des Sommers von 1946 schließen wird, dort sitzt der Ich-Erzähler, wenn er sich im Rahmen der Erzählung vorstellt.
Da ist Dulcie, eine ältere Frau, auf die Robert auf seiner Wanderung oberhalb eines Dorfes und des Meeres stößt. Sie lebt in diesem Cottage völlig unkonventionell ihr Leben nach ihren Regeln,
hat, wie ihre Erzählungen und Anmerkungen in Gesprächen zeigen, ein sehr bewegtes, aber vor allem selbstbestimmtes Leben geführt, hat großes Wissen und viele Fähigkeiten. Sie führt Robert an
Literatur heran, auch sehr unkonventionell, wenn sie ihm ihre Lieblingsautoren zum Lesen gibt: D.H. Lawrence, Lady Chatterley und Lady Chatterleys Liebhaber ( Sie kannte ihn, besitzt Bücher mit
Widmung, seltene Ausgaben, hält große Stücke auf ihn und seine Frau), J. Clare, Keats, Shelley, Emily Dickinson, Emily Bronte... Denn Roberts Wanderung des Sommers endet hier, er bleibt, beginnt
zu reden, zu diskutieren, zu lernen, er arbeitet und lebt zum ersten Mal selbstbestimmt. Er renoviert eine Hütte, die auf Dulcies Grundstück steht, obwohl diese das nicht wirklich will, um sich
dankbar zu zeigen, und findet das Manuskript einer Lyriksammlung, von der Dulcie nichts hören will.
Denn da ist Romy Landau, die Autorin der Gedichte im Werk „Offene See“, die offensichtlich in der Hütte gelebt hat und 1940 im Meer verschwunden ist. Ihr Verhältnis zu Dulcie muss ein besonderes
gewesen sein, denn Dulcie will nichts von ihr hören, sie will aber auch nicht, dass Robert die Sträucher stutzt, die den Blick auf das Meer verwehren, denn sie will das Meer, das ihr Romy
genommen hat, nicht sehen. Romy Landau ist eine deutsche Autorin in England, als der Krieg zwischen Nazi-Deutschland und England beginnt.
Ihre und Dulcies Geschichte erfährt der Leser durch Dulcies Erzählungen, als sie bereit ist, mit Robert über dieses wichtigste Kapitel ihres Lebens zu reden – womit sich in der Begegnung mit
Robert auch ihr Leben positiv verändert.
Diese genannten drei Personen sind die Protagonisten neben der Natur.
Viele Probleme werden angesprochen, oft sind es Ängste, so ist es hier der gerade überstandene Krieg und die Angst vor einem neuen, die vor allem Dulcie umtreibt. Bei Robert ist es die Berufswahl
ohne Selbstbestimmung, aber vor allem seine Suche nach dem Lebenziel, dem Lebenstraum, denn Verneinung dessen, was angeboten wird, zeigt noch keinen Weg. Das Alter ist ein Thema, hier vor
allem im Rahmen der Erzählung thematisiert, wobei einige Aussagen tröstlich sind auch für den Leser. „ Wo ist das Leben geblieben? …. Ich war einmal ein junger Mann, so jung und grün, und das
kann sich nie ändern. Die Erinnerung erlaubt mir, es wieder zu sein.“ (S. 9f)
Von Dulcie nimmt Robert/ der Leser einige Ratschläge mit – es ist aber nicht der trockene Rat mit dem erhobenen, drohenden Zeigefinger. Ein Beispiel: Als Robert feststellt, dass er es gern den
Deutschen heimzahlen wolle, erwidert Dulcie: „Krieg ist Krieg: Er wird von wenigen angezettelt und von vielen geführt, und am Ende verlieren alle... Und im Grunde gibt es nur wenige Dinge, für
die es sich zu kämpfen lohnt: Freiheit natürlich und alles, was sie bedeutet. Dichtung, vielleicht, und ein schönes Glas Wein. Ein gutes Essen. Die Natur. Liebe, wenn du Glück hast.“ (S.48)
Dulcies und Romys Geschichte und damit auch die Bedeutung des gefundenen Manuskripts sollte sich jeder selbst erlesen, ich wollte Ihnen Appetit auf das Buch machen, vielleicht kann das auch noch
diese Aussage über Dulcie, denn so erleben Robert und der Leser sie immer: „sie war bis zum Ende geistig klar und witzig und sarkastisch. Als sie starb, trug sie eine übergroße Sonnenbrille und
hatte reichlich Gin intus.“
Trinken Sie beim Lesen auch ein Gläschen, durch Dulcie erhalten Sie viele Anregungen!
Barbara Schürmann-Preußler