Das erste von mir vorgestellte Buch ist aus dem Dumont Verlag der Roman von E. Arenz „Alte Sorten“, der mir ausnehmend gut gefallen hat, daher habe ich, als der neue Roman von Arenz im
April 2021 erschien, diesen gekauft und gelesen – mit großen Erwartungen. Diese sind nicht ganz erfüllt worden, der erste Roman hat mir besser gefallen. Es liegt daran, dass meiner Meinung nach
sehr viel hineingebracht worden ist, eine Tendenz, die ich in der letzten Zeit in mehreren Romanen beobachtet habe. Ich dachte, das passiere vor allem bei historischen Themen, aber es gilt
offensichtlich auch für andere.
Herausgekommen ist ein Buch, das sich gut und leicht lesen lässt, die Handlung spielt im Sommer 1981 – und es hat mir sehr gefallen, dass ich immer wieder ein déja vue hatte, sei es bei der
Sprache oder bei Gegenständen wie orangefarbenen Plattenspielern aus Plastik, Singles oder Langspielplatten oder Kassettenaufnahmen, den Möglichkeiten des Musikkonsums zu dieser Zeit. Sei es bei
der Literatur, die Frieder liest: Solschenizyn, Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, Siegfried Lenz, Deutschstunde. So war auch das Rauchen damals ein eindeutiger Versuch, erwachsen zu sein
oder wenigstens zu wirken, und damit unter Jugendlichen weit verbreitet.
Friedrich Büchner, genannt Frieder, ist mit 16 Jahren der älteste Sohn einer Familie, die sechs Kinder hat, deren Mutter Regine das Geld verdient und das Familienleben gestaltet, während der
Vater – Philosoph und in anderen Sphären schwebend – auch als Hausmann untauglich ist. Frieder ist erneut sitzengeblieben, da er, zwar an vielem interessiert, sehr belesen, sehr hilfsbereit, sehr
lieb zu seinem kleinen Bruder Kolja, mit einem guten Gedächtnis – wie er meint, offensichtlich für unwichtige Dinge – ausgestattet, die Sinnhaftigkeit des konsequenten Lernens von lateinischen
Vokabeln und mathematischen Formeln nicht sieht. Wenn er die Nachprüfung nicht schafft, muss er die Schule verlassen. Das bedeutet, dass er seine Sommerferien nicht mit der Familie am Meer,
sondern bei den Großeltern in der Stadt verbringen wird, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten.
Nicht schön, aber auch nicht wirklich schlimm, wenn nicht der Großvater, der Herr Professor und Leiter des Instituts für Bakteriologie, ein merkwürdiger und schwieriger Mensch wäre.
Nicht schlimm, wenn Frieder nicht kurz vor den Ferien bei einem Schwimmbadbesuch im Regen auf dem Sprungturm auf dem Siebeneinhalber Beate mit den grünen Augen kennengelernt hätte, in die
er sich auf der Stelle verliebt.
Nicht schlimm, wenn nicht Herr Lohmann, der Vater seines besten Freundes Johann, zu Beginn des Urlaubs am Gardasee tot vom Stuhl gefallen wäre, was Johann völlig verändert, krank werden lässt und
die Freundschaft fast zerstört.
Und doch, allen Widrigkeiten zum Trotz, wird dieser Sommer „Der große Sommer“, in dem Frieder den Schritt zum Erwachsenwerden vollzieht und, wie der Vorspann einiger Kapitel im Präsenz erzählt,
eine lebenslange Liebe und Beziehung beginnt: Immer wieder denke ich an den Sommer, aus dem für mich alles hervorgegangen ist: mein Leben, wie es heute ist. Vielleicht haben andere das auch.
Vielleicht können andere auch sagen, wo ihr Leben begonnen hat. Den Tag nennen, an dem sie erwachsen geworden sind. Den Monat, der sie für immer verändert hat. ( S. 40)
Natürlich erzähle ich nicht Frieders Liebesgeschichte mit all ihren Hindernissen und Zeichen der Liebe,
nicht Nanas Liebesgeschichte 35 Jahre zuvor,
nicht die Aktivitäten von 4 schon oder fast Sechzehnjährigen, die alles machen, was man so erlebt haben muss, allen Unfug, auf den man in dieser Zeit kommen kann. Eine Zeit, in der man sich wie
ein kleines Kind von der Großmutter verwöhnen lässt und gleichzeitig die erste Liebe durchleidet.
Auch nicht von der Bedeutung von Johanns Erkrankung, die, bevor als solche erkannt, die Freundschaft auf eine harte Probe stellt, sie beinahe zerstört.
Das sollten Sie selbst lesen, der Ich - Erzähler ist Frieder in der Rückschau, aber sehr lebendig, ich glaube, viele Leser, die in den 70er und 80er Jahren groß geworden sind, werden sich
angenehm erinnert und berührt fühlen. Das Buch ist schon wegen der Erinnerung an Jugend und erste Liebe absolut lesenswert.
Ich möchte auf den Großvater Professor Dr. Walther Schäfer eingehen, vor dem Frieder Respekt, ja sogar Angst hat:
„Sechs Wochen bei dem Mann, den ich siezen musste, bis ich zehn war. Herr Professor. Der Stiefvater meiner Mutter, vor dem in der Familie alle Angst hatten. Außer ihr vielleicht.“ ( S. 19)
Der Großvater hat als Arzt 1948 Nana, die junge Frau mit zwei kleinen Kindern, vom Mann im Krieg verlassen, als Patientin kennengelernt und geheiratet unter bestimmten Bedingungen: u.a. Er baut
ein Haus, Nanas Mutter wohnt mit den beiden Kindern oben, Nana mit ihrem Mann unten, sie darf die Kinder nur einmal in der Woche sehen, die Kinder müssen ihren Stiefvater siezen.
Nana, die geliebte Großmutter antwortet auf Frieders Fragen danach: „Ich habe ihn gehasst und geliebt... Er ist mein Schicksal... Er ist ein egozentrischer Tyrann. Er ist hart gegen sich selbst
und glaubt, alle andern müssten auch so sein. Er verachtet Gefühle – auch seine eigenen – und hasst Schwäche. Er ist schrecklich.. und trotzdem konnte ich nicht anders... vielleicht auch gerade
deswegen. Gegen die Liebe kannst du nichts machen.“ (S. 129)
„Ich glaube, darum habe ich mich in ihn verliebt, obwohl er ein so harter Mann sein kann. Weil er letztlich durch diese Härte hindurch lieben kann. Und wenn man das merkt...“ (S. 235
)
Und so erlebt ihn auch Frieder.
Er erfährt zu seiner großen Überraschung, dass er als kleiner Junge ein Vierteljahr bei den Großeltern war, weil seine Mutter sehr krank war, und er damals das Herz seines Großvaters gewonnen hat
und dass Frieder auf dessen Vorschlag bei den Großeltern für die Nachprüfung lernt.
Der Großvater gibt die Arbeitsstunden vor, überprüft aber nicht die Einhaltung, bietet Frieder sogar für drei Nachmittage einen Job als Bote in der Klinik an.
Er unterhält sich mit Frieder über Literatur, über Musik, über Geschichte, über Mathematik, über Biologie und so eröffnen sich ihm völlig neue Aspekte und Perspektiven. Denn der Großvater zeigt
ihm einen grundsätzlichen Zugang zu den Dingen: „Wenn man etwas tut, dann muss man wissen, wozu man es tut, nicht, wie. Das macht den Unterschied zwischen einem denkenden Menschen und einem
Kopieraffen aus.“ (S. 96)
Seine Aussage über die Liebe muss aber auch zitiert werden: „Verliebtheit ist eine temporäre Hormonvergiftung. Meist heilt sie von selbst ab.“ (S.153) Und das gesagt einem sechzehnjährigen bis
über Ohren Verliebten!
Wenn Hilfe benötigt wird, ist der Großvater sofort zur Stelle: bei dem kranken Tiger im Zoo, bei Johann, als dessen Krankheit gefährlich wird, bei Frieders `Baggerproblemen`.
„Anscheinend hat Großvater auch zwei Gesichter. Wie Nana und Mama und ich und überhaupt alle richtigen Menschen. Nur waren sie bei ihm viel unterschiedlicher.“ ( S. 235)
Ich hoffe, Ihr Interesse durch Erinnerung an die Zeit vor 40 Jahren geweckt zu haben.
Barbara Schürmann-Preußler