Das Buch ist 2019 im Dumont Verlag erschienen, von mir als TB erworben und gelesen 2020 – das Buch hat 255 Seiten, diese umfassen nur einen kurzen Zeitraum. Da die Kapitel mit dem Datum des
Tages, um den es geht, versehen sind, lässt es sich gut eingrenzen auf die Zeit vom 1. September bis zum 15. Oktober, mit Zeitsprüngen, nicht jeder Tag findet Beachtung. Also nur eineinhalb
Monate, die zwei Menschen verändern, ihnen neue Richtungen aufzeigen und Wege eröffnen.
Das knapp 18jährige Mädchen Sarah, das sich Sally nennt, ist wegen seiner Magersucht zur Behandlung in einer Klinik und verlässt diese in eigener Entscheidung, Sally läuft heimlich davon.
Sie trifft zufällig auf Elisabeth, genannt Liss, eine mehr als 30 Jahre ältere Frau, die ihr Unterkunft und Essen bietet.
Liss bewirtschaftet einen Hof ganz allein, sie ist verschlossen wie Sally und wird im Dorf gemieden, nur eine sehr alte Frau, Anni, spricht mit ihr. Irgendein Geheimnis umgibt sie, auf das der
Leser durch Liss` Gedanken und Erinnerungen sowie Briefe erste Hinweise vor der Aufdeckung gegen Ende des Romans erhält. Sie spricht mehrfach von Fäden, echten und unsichtbaren, die Menschen
binden, auch aneinander binden: „ Wenn man von jemandem alles wusste, dann konnte man ihn an tausend Fäden halten.“ (S. 49)
Sally ist voller Wut und Zorn, Gefühle, die sie immer wieder herausschreit, sie fühlt sich zu Hause als Gast und in der Schule unter Gleichaltrigen nicht aufgehoben, nicht verstanden, sondern
immer bedrängt, eingesperrt, gezwungen. Auf den Vorwurf ihrer Eltern, magersüchtig zu sein, da sie einem körperlichen Idealbild nachstrebe, erwidert sie, sie esse nicht deshalb nicht, weil sie
„schön“/ „schlank“ sein wolle, sondern „weil hier ( in dem geschmackvoll eingerichteten Haus der Mutter) nichts schmecken kann.“ ( S.131)
Sally verändert sich durch den Aufenthalt bei Liss. Denn diese lässt sie in Ruhe, sie kann in eigener Entscheidung schlafen, essen, gehen, bleiben und mitarbeiten, was sie bald macht: auf dem
Feld, im Wald, bei den Bienen, im Obstgarten, beim Brotbacken, beim Mosten, beim Herbsten, beim Brennen. Sally findet Ruhe auf dem Hof, bei der harten Arbeit, ihre Zornesausbrüche werden weniger,
sie isst ungezwungen regelmäßig.
Dass auch Sallys Anwesenheit für Liss etwas verändert, zeigt eine Episode:
Liss nimmt Sally mit in einen Garten, in dem zahllose Reihen von Birnbäumen stehen, ganz alte Sorten, die Liss alle benennen kann, deren Vorzüge und Nachteile sie alle kennt ( sie musste das
alles auswendig lernen) und auf Nachfrage Sally erklärt. Sie betritt ihn konsequent nur einmal im Jahr zur Ernte, allein, um die Früchte nicht verkommen zu lassen. Der Grund: Er ist für sie ein
Beispiel für das Vorgehen des Vaters, dieser hat alles eingegrenzt, alles Natürliche in die von ihm gewollte Form gezwungen, auch die eigene Tochter – Sally aber erkennt, dass dieser Garten durch
das Nichtbetreten und in Ruhelassen ein wunderschöner Zaubergarten geworden ist. Sie kann Liss diesen neuen Blick auf die Schönheit des Gartens vermitteln:
„Ich kann sehen, dass der Garten mal wie ein Käfig für dich war... . Das ist alles wie eine wunderbare Strafe für den Versuch, Sachen, die wachsen, in eine Form zu pressen... Dadurch,..., dass du
alles hast wachsen lassen, ist das ein Zaubergarten geworden!...Du musst ihn dir zurückholen! ...Jetzt gehört er dir!“ ( S. 118)
Sie profitieren also beide von dem Zusammensein mit dem anderen.
Warum ist das so?
Liss formuliert es gegenüber Sally so:
„Sally.., du hast keine Vorstellung. Du hast keine Ahnung, wie sehr du mich...als wir uns das erste Mal getroffen haben, da bist du zornig den Weinberg hochgestiegen, und es war, als hätte ich
mich in einem Spiegel gesehen, der das Bild mit dreißig Jahren Verzögerung zurückwirft... Ich weiß noch, wie es sich anfühlt, sich irgendwann mal schön und besonders und anders zu fühlen, wenn
man sich ansieht; zu wissen, dass man für etwas anderes geboren ist als das hier.....Und ich weiß, wie es ist, wenn dieses Gefühl, wenn diese Sicherheit, besonders zu sein, Stück für Stück
kaputtgeht wie ein Baum, den man in die falsche Erde gepflanzt hat, und ihn mit Stricken und Pfählen dazu zwingt, von der Sonne weg zu wachsen.“..... Liss weiß, was Sally braucht, weil sie deren
Probleme und Gedanken aus eigenem Erleben kennt.
Sally erkennt irgendwann auch:
„Sie hatte noch nie jemanden erlebt, der einen nicht ….es war schwer zu sagen... der einen nicht in Besitz nahm. Und dem man trotzdem nicht gleichgültig war. Jemand, der nichts von einem wollte,
was man nicht freiwillig gab.“ ( S. 172)
„Du...ich habe gedacht, ich bin kaputt. Und dann bin ich zu dir gekommen, und dir war es egal,...oder nein. Du hast es genau richtig gemacht. Dir war es nicht egal, aber du hast mich gelassen.
Und irgendwann hab ich auch gemerkt, dass es dir nicht egal ist. Dass du gewollt hast, dass ich...dass ich nicht mehr kaputt bin.“ (S.217)
Ich habe Ereignisse, die Einfluss auf die Entwicklung dieser beiden Personen nehmen, und vor allem das Ende dieser Erzählung nicht erwähnt, sondern den Schwerpunkt gelegt auf das Verhältnis der
beiden Protagonistinnen, aus deren Perspektive im Wechsel erzählt wird, so dass wir ihre Gedanken und Gefühle sehr genau miterleben, das Verhältnis, das sich übrigens überhaupt nicht so
reibungslos darstellt, wie die ausgewählten Textstellen es vielleicht vermitteln. Auch das, was Liss im Dorf zur Außenseiterin macht, Liss`Geschichte, habe ich nur angedeutet, hoffe aber, Ihre
Neugierde und Ihr Interesse geweckt zu haben.
„Alte Sorten“ist ein sehr schönes Buch mit einem versöhnlichen Schluss, Der Leser lernt viel über das Leben auf dem Land: Was ist „Brennen“ - „Herbsten“ - „Mosten“, wie befreit man Bienen von
Milben? Und dass die Beschäftigung mit und in der Natur heilsam ist, körperliche und seelische Wunden verheilen lässt. Zwei einsame Menschen finden neue Perspektiven im vorsichtigen Umgang
miteinander, denn „weg ist keine Richtung“, wie Sally erkennt.
Das Bild auf der Vorderseite des Buches verweist auf den Titel, bei den alten Sorten handelt es sich um Birnen, ein Zweig mit zwei Birnen, einigen Blättern und eine Biene im Anflug sind
etwas erhaben dargestellt, Anblick und Haptik sind ansprechend – was durchaus die/ meine Auswahl positiv beeinflussen kann und in diesem Fall auch hat, denn ich habe es in der Buchhandlung
gesehen und wegen des Covers in die Hand genommen.....
Barbara Schürmann-Preußler